Wo ist die Mitte?

Nun habe ich lange nichts mehr geschrieben. Man will ja auch nicht immer etwas Kritisches schreiben, Corona muss auch nicht sein als Thema. Aber nun ist es doch – zumindest ein bisschen – Thema.

Vor wenigen Tagen wurde ein Mitarbeiter einer Tankstelle erschossen, weil ein Kunde an ihm ein „Zeichen setzen“ wollte gegen die Corona-Maßnahmen und gegen die staatliche Bevormundung. Ich würde ein solches Verhalten als weit außerhalb der Norm ansehen und nicht als repräsentativ für Impfgegner, Coronaleugner, Lockdownkritiker etc. Aber das wird wohl unterschiedlich gesehen.

In der Süddeutschen schrieb ein Kommentator sinngemäß, dass es ja offenbar mittlerweile mit den extremen Haltungen soweit sei, dass der Hinweis auf die Maskenpflicht gleich als unerträgliche Bevormundung angesehen würde.

Ohne in geringster Weise den Mörder in Schutz nehmen zu wollen: umgekehrt ist es nicht anders. Wer auch nur den Hauch einer kritischen Frage bezüglich der Corona-Maßnahmen anklingen lässt, ist sofort ein Querdenker. Die Google-Suche „Ungeimpfte sind“ liefert als erste Ergebnisse:

– asozial

– eine Gefahr

– schuld

– unsolidarisch

– soziale Schädlinge

Einen scharfen Ton kann man also durchaus aus beiden Richtungen konstatieren.

Könnte es sein, dass, wenn man nur lange genug eine Bevölkerungsgruppe als asoziale und verkommene Volksschädlinge bezeichnet, diese Gruppe sich irgendwann auch so verhält?

Aber, und das ist mein eigentliches Anliegen mit diesem Text, es ist gar nicht nur bzw. gar nicht erst seit Corona so. Darauf gebracht hat mich das sehr gute Buch „Über Menschen“ von Juli Zeh. Hier wird ein etwas weiterer Bogen geschlagen, was die „Lagerbildung“ in der Bevölkerung angeht, die Aufteilung in Gut und Böse, Schädlich und Nützlich.

Und es ist was dran: wohin ist eigentlich seit mehreren Jahren die gemäßigte Haltung breiter Bevölkerungsgruppen verschwunden? Wenn man für bestimmte Themen die beliebten Skalen „von 1 (strikt dagegen) bis 10 (strikt dafür)“ anwenden würde, so ist mein Eindruck, dass zwischen 3 und 8 kaum noch etwas ist. Und es werden immer mehr Themen …

Zum ersten Mal wurde das richtig deutlich bei der Flüchtlingskrise. Ab 2015, vor allem nach Silvester, gab es eigentlich nur noch gutmenschelnde Bahnhofsklatscher auf der einen Seite und menschenverachtende Nazis auf der anderen. Wer ganz grundsätzlich die Aussage „wir schaffen das“ gut und auch, für eines der reichsten Länder der Welt, angemessen fand; wer insbesondere fand, dass für eine Partei, die das „C“ im Namen führt, diese Haltung eigentlich verpflichtend ist: der wurde gefragt, ob er demnächst die ganze Republik an Afrika verschenken will. Ob er seine Tochter dann auch von sexuell unterversorgten N*** vergewaltigen lassen will. Ob ihm kriminelle Afrikaner wichtiger sind als arme Rentnerinnen. Und, und, und.

Umgekehrt war es nicht besser. Wer auch nur eine leise Kritik am Umgang mit der Flüchtlingskrise äußerte; wer fand, dass man das mit dem subsidiären Schutz und/oder dem Familiennachzug vielleicht begrenzen könnte; wer fand, dass man doch ein Respektieren westlicher Werte und die Einhaltung westlicher Gesetze verlangen könne: der war ganz klar ein Rassist, einer, der die spezifisch deutsche Verantwortung in diesen Dingen mit Füßen tritt, einer, der, ließe man ihn, persönlich ein Flüchtlingskind im Mittelmeer ertränken würde.

Oder der Klimaschutz:

Wer findet, dass die FFF-Demonstrant*innen mit ihrem Anliegen durchaus Recht haben; dass man sich im Winter vielleicht einfach mal einen dicken Pullover anziehen kann, statt die Bude auf 28 Grad zu heizen; dass nicht alles so weitergehen kann, wie es bisher gelaufen ist: der ist ein naiver Träumer, der am liebsten ganze Industrien in Schutt und Asche legen würde. Dem es völlig egal ist, wie die (dann ehemalige) VW-Belegschaft ihre hungernden Kinder satt kriegt. Der will, dass alle wieder mit der Handkarre unterwegs sind (was dem Handkarren-Mann in den Fragen zur Führerscheinprüfung zu neuer Bedeutung verhelfen würde). Der unsere Mobilität hinter die von entlegenen pakistanischen Bergregionen zurückstutzen will.

Wenn man wiederum anmerkt, dass so ein Herunterfahren auf Null dann doch verschiedene negative Auswirkungen hätte; dass die Anreise per Auto zur FFF-Demo jetzt auch nicht gerade umweltschonend ist; dass man vielleicht schauen sollte, wie man klimaschonendes Handeln und Wirtschaft unter einen Hut bekommt (denn seien wir ehrlich – die pure eigene Existenz ist klimaschädigend und der Erde wäre am besten gedient, wenn wir alle von einer Klippe springen und wenigstens den Fischen als Futter dienen würden): dann ist man ein Umweltschwein, das am liebsten alles per SUV erledigt und Altöl vorzugsweise in schützenswerten Biotopen verklappt. Wenn man dann noch über 50 ist, darf man sich zu dem Thema überhaupt nicht äußern, denn man ist ein Boomer, der der Welt persönlich alle Probleme eingebrockt hat.

Und nun eben Corona, Lockdown und Impfung. Man ist entweder übelster Leugner und Querdenker, oder man ist Schlafschaf. Reichsbürger oder Mainstream-Höriger.

Wissenschaftler, die sich zum Thema äußern, sind, wenn die Aussage genehm ist, hochqualifiziert, was man an ihrem Doktortitel unschwer erkennen kann, oder, wenn die Aussage den eigenen Überzeugungen widerspricht, ein weiteres Zeichen dafür, dass heutzutage jeder Vollidiot einen akademischen Abschluss, einen Doktortitel und die Leitung eines renommierten Institutes hinterhergeworfen bekommt.

Woher kommt diese seit einigen Jahren nicht mehr abflauende Verschärfung in den Auseinandersetzungen? Sind die mäßigenden Stimmen verstummt? Die Gruppe der Nachdenklichen, der Nachfrager, der vorsichtig Kritischen gibt es nicht mehr. Man ist dafür oder dagegen, Freund oder Feind, Engel oder Teufel.

Sind es die „sozialen“ Netzwerke wie Twitter und Facebook, oder evtl. auch alle Onlinemedien, die im Zuge des „Clickbaitings“ nichts anderes wollen als aufstacheln, Aufmerksamkeit erregen, Verweildauern auf Seiten maximieren?

Wird das so weitergehen? Welches ist die nächste Sau, die durchs Dorf getrieben wird? Zu welchem Thema werden sich als nächstes Bürger, von denen man das nie gedacht hätte, die Köpfe einschlagen?

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2 Antworten zu Wo ist die Mitte?

  1. brille86 schreibt:

    Es gibt meines Erachtens eine Zunahme von Komplexität und Geschwindigkeit, daraus resultierend vielfach Überforderung – social media und die ständige Verfügbarkeit von Informationen haben damit auch zu tun.
    Es ist echt viel Hysterie in der Welt.

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